Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
Sehr geehrter Herr Bürgermeister

als Boris Jelzin auf seinem ersten Weltwirtschaftsgipfel gefragt wurde, wie es denn Russland ginge, sagte er „gut“. Als man ihn bat, dieses ‚gut’ etwas zu konkretisieren, meinte er „nicht gut“. Und uns. Geht’s, geht’s so lala oder geht es uns jetzt gut? Als in vieler Hinsicht einmalig, nannte der Bürgermeister seinen achten Haushalt. Er warnte aber gleichzeitig davor, die Konsolidierung nicht zu gefährden. Tatsächlich haben wir gemeinsam in den vergangenen, teilweise auch schwierigen Jahren uns wieder Handlungsspielräume erarbeitet und diese auch genutzt. Ich nenne hier die Kinder- und Jugendbetreuung im Kindergarten und in den Schulen, die Erweiterung des Gymnasiums, die Altstadt- und Dorfsanierung und einiges mehr. Trotz guter Zahlen für den Haushalt 2008 können wir lediglich durchatmen, dürfen uns jedoch noch nicht zurücklehnen. Dass wir dieses Jahr endlich real Schulden abbauen liegt auch an einer kleinen Straße. Kennen Sie die? Fragt man in Kenzingen nach der „Hinteren Kirchgasse“ werden die meisten wahrscheinlich mit der Schulter zucken und die Vermutung äußern, diese Straße müsse wohl in der Nähe eines Kirchturms liegen, in Kenzingen, Bombach, Hecklingen oder Nordweil.

Es gibt sie, die Hintere Kirchgasse. Sie ist klein und unscheinbar. Ganz unspektakulär verbindet sie den Kirchplatz in Kenzingen mit dem Oberen Zirkel, wobei man sie nicht eigentlich wahrnimmt. Ist sie doch ein gutes, fast perfektes Beispiel dafür, dass sich nicht nur Tiere ihrer Umgebung anpassen können. Nein, auch Straßen können das. Man muss nämlich schon genau hinschauen, um sie noch von ihrer Umgebung zu unterscheiden, da sie sich fast vollständig, ihrem Nachbarn, einem unbefestigten Platz, angeglichen hat. Manche nennen sie hässlich, und sie bleibt auch für die nächste Zeit so wie sie ist. Das hat aber Folgen von großer Symbolkraft: dadurch, dass wir das beantragte Facelifting erst einmal auf unbestimmt verschoben haben, werden zum ersten Mal seit Jahren auch in Kenzingen, trotz geringer Kreditaufnahme, tatsächlich Schulden abgebaut.

Natürlich ist die Stunde günstig, aber man muss sie auch zu nutzen wissen, die Gunst der Stunde. Ob das unbedingt durch Auslagerung von Dienstleistungen des Bauhofes an Private, das Outsourcing, geschehen muss, wage ich zu bezweifeln. Hier müssen wir die Personalentwicklung weiter im Blick haben: Leistung muss sich nicht nur lohnen, sie muss erst einmal erbracht werden können.

Ganz ungeplant ist das aktuelle gute Ergebnis nicht. Und wichtig: es ist keine Mogelpackung. Es ist auch ein Verdienst der gemeinsamen Anstrengungen von Verwaltung, Bürgermeister und Gemeinderat der vergangenen Jahre: Investitionen – Ausgaben – sollten wieder in angemessenen Verhältnis zu den Einnahmen stehen. Ich spreche bewusst von einem angemessenen Verhältnis. Investitionen ohne Schulden wäre zwar wünschenswert bleiben aber für die meisten Kommunen und Privathaushalte – es sei denn, man ist Manager bei Porsche – eine Utopie. Es spricht auch nichts dagegen, die Finanzierung sogenannter Zukunftsinvestitionen, wie z. B. eine Schulerweiterung, auf mehrere Jahre zu verteilen. Aber eben nicht auf die nächste Generation oder sogar Generationen. Immerhin meint „Generation“ ca. 30 Jahre. Die tatsächliche Abschreibung, auch von Zukunftsinvestitionen, erfolgt in der Regel in wesentlich kürzeren Zeiträumen und die nächsten Generationen haben mit Sicherheit genug eigene Zukunftsinvestitionen zu bewältigen.

Die Einstellung, Risiken auf zukünftige Generationen zu verlagern – das gilt gleichermaßen für ökologische Belange, aber das ist ein anderes Thema – hat zu der Situation geführt, in der sich Bund, Länder und Kommunen heute befinden. Von U.S. Präsident Reagan erzählt man sich folgende Anekdote: Gefragt, ob er sich denn keine Sorgen wegen des Haushaltsdefizits mache, habe er geantwortet: „Nein , mache ich mir nicht. Ich denke, das Haushaltsdefizit ist jetzt groß genug, dass es sich um sich selbst kümmern kann.“ So war’s. Doch gerade als man hoffen konnte, alle, auch der letzte Berliner Hinterbänkler, hätten begriffen, dass Schulden, wenn man sie addiert, immer größer werden und dass Ressourcen, wenn man nur abzieht, immer weniger werden, also gerade als ein Schimmer der Vernunft am Berliner Himmel zu sehen war, schieben sich wieder Wolken der Maßlosigkeit und Dummheit vor diesen. Es ist kaum zu glauben: noch kein Cent ist trotz enormer Steuermehreinnahmen in guten Zeiten von einem riesigen Schuldenberg abgetragen und schon werden Forderungen laut, die Verteilungsmaschine wieder anzuschmeißen und es wieder regnen zu lassen, natürlich von oben nach unten.

Wir haben es zumindest für dieses Jahr geschafft, das aus den Fugen geratene Verhältnis von Einahmen und Ausgaben etwas zurechtzurücken und, es darf noch einmal gesagt werden, Schulden abzubauen. Hoffen wir, dass diesem ersten Schritt noch weitere und größere folgen, in diese Richtung. Deshalb ist es für uns akzeptabel, wenn eine kleine Gasse auch weiterhin mit dem Charme des Unvollkommenen leben darf. Und sich mehr und mehr mit dem Nachbarn assimiliert.

Apropos Platz. Früher hieß er der Rote, der Rote Platz. Nachfolger des Drei-Tannen- Stadions. Der Rote Platz in Kenzingen war nicht so bedeutend wie sein Namensvetter in Moskau. Auch war er kein Truppenaufmarschplatz sondern die Arena für Fußballspiele der Ober- gegen die Unterstadt. Das ist heute, nach nicht einmal einer Generation, kaum noch vorstellbar: ein großer Platz in der Innenstadt, der nicht einmal extra für Jugendliche vorgesehen und vorgehalten war. Nein, er war einfach da - und frei. Nicht zugeparkt, nicht gesperrt und auch nicht in ein Gesamtkonzept, theoretisch untermauert, eingebettet. Es sind nicht sentimentale Reminiszenzen, die uns immer wieder für Freiflächen, also tatsächlich freie Flächen, in der Stadt eintreten ließen; oder weshalb wir uns gegen eine weitere Reduzierung der Grün- und Spielfläche im Neubaugebiet Breitenfeld ausgesprochen haben. Freiflächen sind für Jung und Alt notwendiger Bestandteil ihres direkten Wohnumfeldes.

Das Betreuungsangebot für Kinder und Jugendliche haben wir in den letzten Jahren konsequent ausgeweitet. Wir haben dies immer unterstützt, wohl wissend, dass wir eigentlich noch mehr Angebote schaffen müssten, wir letztendlich nie ein optimales Angebot erreichen können. Veränderte Ladenschlusszeiten, immer noch flexiblere Arbeitszeiten, intensives und exzessives Freizeitverhalten. Aber wer treibt und wer wird getrieben? Natürlich gibt es die Eigenverantwortung der Eltern. Es lässt sich vortrefflich über Kindeswohl räsonieren und über Eltern schimpfen, die ihre Kinder vor dem Fernseher oder Computer parken. Nur, das nützt den Kindern nichts und verkennt auch die zum Teil extrem schwierigen Umstände, in denen sich so manche Familie heute befindet. Gemeinsam kämpfen wir für eine geänderte Planung der Neubaustrecke der Bundesbahn. Wir fordern zu Recht eine Trasse, die unsere Gemeinde nicht zerschneidet und teilt und die unsere Stadt nicht mit einem Lärmteppich zudeckt. Aber viele Straßen in unserer Stadt sind zeitweise weniger Verbindungen als Demarkationslinien, die es gerade für Kinder gefährlich machen, das Haus zu verlassen. Natürlich kann eine Gemeinde nur begrenzt Einfluss nehmen, auch rennt sie, dem Hasen gleich, vielen Entwicklungen hinterher. Wir müssen uns nur wundern, dass Kindergärten und Grundschulen vergleichsweise wenig Bundesmittel erhalten, obwohl alle Fachleute, vom Gehirnforscher bis zum Pädagogen, unisono sagen, dass diese Jahren für die weitere Entwicklung der Persönlichkeit die entscheidenden sind.

In anderen Dingen müssen wir handeln. Bei Betreuungsangeboten und eben bei so konkreten Dingen wie Frei- und Spielplätzen. Es ist auch in unserem Sinne, wenn in den nächsten Jahren die Spielplätze saniert werden. Vorbereitet müssen wir auch auf Veränderungen im Schulalltag sein. Es scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass die gemeinsame Schulzeit nicht schon nach 4 Jahren enden sollte. Wenn die letzten Ideologen hier ihre Bastionen verlassen haben, kommen auf uns – zusätzlich zu den demographisch bedingten Veränderungen, besonders in den Ortsteilen – zusätzliche Herausforderungen zu. Wir sollten darauf vorbereitet sein. Wie natürlich auf alles Übrige auch. Churchill wurde gefragt, was einen guten Politiker ausmache. Er antwortete: „Die Fähigkeit vorauszusehen, was in einem Tag, in einer Woche oder in einem Jahr passieren wird.“ Dann fügte er noch hinzu: „ ... und überzeugend erklären zu können, warum das dann doch nicht passiert ist.“

Wie wird die Zukunft. Tritt der demographische Wandel so ein, wie ihn die Statistiker vorhersagen? Wir wissen es nicht genau. Aber dass es demographische Veränderungen geben wird ist, sicher. Deshalb tritt die ABL dafür ein, auch wenn die Statistiker für unsere Region noch einige Jahre Wachstum prognostizieren, nur maßvoll, wenn überhaupt, neue Baugebiete auszuweisen. Vorhandene Infrastrukturmaßnahmen wie Straßen, Leitungen sind bei sinkender Bevölkerungszahl für alle Bürger eine teuere Sache. Verstärkt sollten wir uns auch auf ältere Menschen einstellen: Wohnformen, Planung der Baugebiete, Verkehrsplanung, und, soweit möglich, Unterstützung wohnortnahen Handels. Im nächsten Jahr sollen die gepflasterten Gehwege der Innenstadt in Teilen geglättet werden. Das erleichtert älteren und gehbehinderten Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Benutzung. Meine Kollegin, Frau Kamphues, hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass die Pflastersteine für gehbehinderte Menschen sehr problematisch sind. Für mich war dies ein Dilemma: einerseits konnte sich niemand dieser Argumentation verschließen, andererseits konnte ich mir eine Innenstadt ohne Pflasterung nicht vorstellen. Die jetzt angestrebte Glättung der Steine scheint das Dilemma zwischen Nutzung und Ästhetik zu lösen. Hoffen wir, dass in diesem Falle die Quadratur des Kreises funktioniert.

Wir können auch nicht mit Bestimmtheit sagen, wie das Wetter von morgen wird. Ich spreche nicht von Klimakatastrophe, aber die Verharmloser, die euphemistisch von einem klitzekleinen Klimawandel sprechen, der die Tomaten etwas früher reif werden lässt, haben selbige auf den Augen und sind der Sache nicht dienlich. Sie verschleiern eher; sie nerven mit ihrer „Es ist alles klar und weiter so“-Me DS: Evangelischer Kindergarten, Frau Dick z.d.A. ntalität. Sie sind so kompetent wie der Schlafforscher, der behauptet hat, große Menschen sind ausgeschlafener als kleine, denn sie liegen länger im Bett. Wie gesagt, wie es wird, weiß keiner. Aber in den Fachpublikationen gibt es keinen Wissenschaftler, der bestreitet, dass es Veränderungen geben wird und diese dramatisch sein können. Deshalb müssen wir hier auch unseren Beitrag leisten. Wir wollten deshalb einen alternativen Stromanbieter und eine verstärkte Nutzung regenerativer Energien in den neuen Baugebieten. Es wurde abgemacht, dass wir uns im kommenden Jahr über dieses Thema intensiv im Gemeinderat beraten. Wir sind gespannt.

Viele Bürger engagieren sich für unsere Stadt und ihre Menschen. Wir begrüßen die vielfältigen Formen des Engagements. Sei es in Vereinen, im sozialen und kirchlichen Bereich, in der Bücherei, in Gruppen oder sei es das stille, private Engagement. Bei der Umgestaltung des Friedhofes haben sich Bürgerinnen und Bürger ebenso zur Mitarbeit angeboten wie bei einer zukünftigen Gestaltung der Innenstadt. Wir bitten, dass auch die Verwaltung die Anregungen und Vorschläge dieser Bürger ernst nimmt und nicht vorschnell Fakten schafft. Ernst nehmen heißt für mich aber nicht abnicken. Die Verantwortung bleibt bei jedem Gemeinderat und er ist auch weiterhin den Bürgerinnen und Bürgern Rechenschaft schuldig – ohne Schlupfloch.

Wenn es stimmt, was die BZ neulich berichtete, bekannte kürzlich ein Durchreisender, die Ortsdurchfahrt von Kenzingen sei ihm zuwider. Wegen der Ampeln. Berücksichtigt man, dass von drei Ampeln zwei den Menschen, die in dieser Stadt wohnen, das Queren der Hauptverkehrsstraße zum Teil erst möglich machen, z. B. den Bewohnern des Kreisseniorenzentrums, so kann man über so eine Ansicht nur erstaunt den Kopf schütteln. Es zeigt aber deutlich, diese eigentlich verquere Ansicht aus grauer Automobilistenurzeit ist heute immer noch vorhanden. Zeit also, etwas für die Menschen, Bewohner und Nutzer, der Innenstadt zu tun.

Zum Schluss meiner Rede danke ich für die ABL-Fraktion allen, mit denen wir im vergangenen Jahr zusammengearbeitet haben. Manchmal war es lang, manchmal sogar zu lang, ein anderes Mal hätte es etwas intensiver sein können. Aber alles in allem war es eine gute Zusammenarbeit. Vielen Dank. Gelegentlich ist man sich zwar über die Richtung nicht einig, aber in der Regel sitzen wir doch im gemeinsamen Zug, so wie die Herren Feingold und Bernstein.

Feingold will von Warschau nach Minsk, Bernstein von Minsk nach Warschau. Auf dem Bahnsteig von Brest, bei einem Zwischenhalt, kommen sie ins Gespräch. Sie reden auch noch, als sie schon im Zug sitzen. Plötzlich hält Bernstein inne: „Schau Feingold, is das nich a großartige Zeit? Du fährst von Wahrschau nach Minsk, ich fahr von Minsk nach Wahrschau.“ - „Und?“ – „Und? Und beide sitzen wir im selben Zug!“ Die ABL stimmt dem Haushalt zu. Stefan Bilharz