Sehr geehrter Herr Guderjan,
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

1.865 Jahre wurde an einem Bauwerk gebaut, das heute Chinesische Mauer genannt wird. Nein ich werde jetzt nicht auf das geplante Überwerfungsbauwerk eingehen, das ich an anderer Stelle mal die badische Variante der chinesischen Mauer genannt habe. Vielmehr interessiert mich eine andere Mauer. Das Vorbild dieser Mauer steht in Jerusalem und wird Klagemauer genannt. Ein, zugegeben, eher Mäuerchen im Vergleich zur erstgenannten Mauer. Ganz anders dagegen die neue Klagemauer. Gebaut in wenigen Jahren, zieht sie sich durch ganz Deutschland, sie läuft von Ost nach West, von Nord nach Süd, windet sich durch alle Gemeinden, Landkreise und Länder und hat sich auch in den Köpfen der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes festgesetzt. Ein wirklich gigantisches Bauwerk. Und sucht man in den Ritzen dieser Mauer nach den Zetteln wird man keine finden, da ganze Aktenordner darin stecken, voll mit Wünschen, daß doch alles so bleiben soll und muß, wie es bisher gewesen war.

Natürlich hätte auch ich, nein habe auch ich viele Ordner, die ich in die Ritzen dieser Mauer stecken will - als Stadtrat, als Kreisrat und als Privatperson. Aber wir vergeuden unsere Kraft und unsere Phantasie, indem wir die Ritzen in der Mauer suchen, anstatt diese Mauer einzureißen, um den Blick nach vorne frei zu machen.

Natürlich weiß ich, daß wir diese Mauer nicht einfach einreißen können. Wir müssen einen Bauantrag stellen. Und der geht nach Emmendingen, nach Stuttgart, nach Berlin und nach Brüssel und dann müssen wir warten bis Brüssel, Berlin, Stuttgart und Emmendingen uns den Abbruch genehmigen und wahrscheinlich schreiben sie uns noch vor welche Werkzeuge wir benützen müssen. Daß wir die dann noch überteuert bezahlen müssen interessiert hier nur noch am Rande.

Natürlich sind Klagen berechtigt. Wir alle wissen, daß das Finanzierungssystem der Kommunen erhebliche strukturelle Defizite aufweist. Wir alle wissen, daß die schon seit Jahren immer wieder begonnenen Reformdiskussionen regelmäßig stecken bleiben in dem Dickicht der Paragrafen, Erbhöfen, Parteien- und Einzelinteressen.
Die Gemeindefinanzierung ist sowohl qualitativ als auch quantitativ unzureichend. Wir haben dieses Jahr erlebt, daß in dem bestehenden System der Finanzzuweisungen und der Umlagen eine verbindliche und solide Prognose nur über 24 Stunden möglich war. Beständigkeit hatte nur eine Aussage: Die Einnahmen werden immer weniger.

Und wenn prognostizierte Gewerbesteuereinnahmen ausbleiben oder sogar schon eingenommene Einnahmen wieder zurückbezahlt werden müssen, so trifft uns das so unerwartet und zum Teil unverdient wie eine Überschwemmung. Nur selten hat der, der das Hochwasser im Wohnzimmer stehen hat auch selbiges verursacht. Allein verursacht.
Aber meist trägt er doch eine Mitschuld und sei es nur als aktiv handelndes Mitglied dieser Gesellschaft.

So könnte z.B. die Schlagzeile in der heutigen Zeitung statt „Ein Darlehen stopft die Steuerlöcher“ auch heißen: „Ein Darlehen für die Darlehen der Vergangenheit“.
Ich erinnere mich noch gut, welch harte Worte Herr Stärk und ich uns anhören mußten als wir Mitte der 80er Jahren in diesem Gremium die damaligen Neuverschuldungen und damit die Haushalte abgelehnt hatten. Aber es war so wie bei der Begradigung der Flüsse oder der Versiegelung der Böden: Die möglichen Folgen waren und sind bekannt, aber der mainstream war und ist stärker.

Statt antizyklisch zu handeln und Reserven zu schaffen oder alte Schulden zu tilgen wurden in vielen Gemeinden neue Schulden gemacht. Aber vermutlich war und ist es schwierig, ein antizyklische Verhalten durchzuhalten. Wo ist die Schnittstelle? Was für die einen schon gute Zeiten sind, sind für die anderen immer noch schlechte. Und auch in guten Zeiten kann eine Klagemauer gebaut werden und gerade in guten Zeiten entstehen Begehrlichkeiten, die nach sofortiger Befriedigung verlangen.

Deshalb macht es jetzt Sinn und jetzt ist die Möglichkeit da, die Mauer einzureißen und den Standort neu zu bestimmen.

-    Was muß eine Kommune tatsächlich leisten?
-    Was kann eine Kommune leisten?
-    Wo sind in der Vergangenheit Verbindlichkeiten eingegangen worden, die eigentlich nicht Angelegenheit der Allgemeinheit sein können?

Wir begrüßen und unterstützen es, wenn auf der nächsten Klausurtagung eine Standortbestimmung gemacht wird. Aber dann bitte nicht entlang einer fertigen Vorlage im Stile einer Gemeinderatsitzung sondern eine offene Diskussion mit offenem Ausgang.
Das impliziert logischerweise die Forderung, daß jeder von uns sich Gedanken machen muß über die Organisation und Struktur unserer Gemeinde und über die zu erbringenden Dienstleistungen.

Mit Blick auf die demographische Entwicklung, Stichwort: Alterung der Gesellschaft, muß sich eine zukunftsorientierte Kommune auch Gedanken über kommende Aufgaben in diesem Bereich machen. Dazu zählen Betreuungsformen, Wohnformen und Möglichkeiten der Teilnahme der älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger am aktuellen Geschehen und Leben in der Gemeinde.

Wir sehen z.B. auch noch erhebliche Defizite im Betreuungs- und im Bildungsangebot für Kleinkinder, Kinder und Jugendliche. Neue Betreuungsformen sollten angeboten, eine bessere Vernetzung der verschiedenen Betreuungsformen und Einrichtungen - Kindergärten und Schulen - muß entwickelt werden.
Wenn die Verantwortlichen in der Kultur- und Bildungspolitik PISA ernst genommen hätten, wären gerade im Kindergarten- und Grundschulbereich schon längst Reformen auf den Weg gebracht worden, die sich an der Lebenswirklichkeit der Kinder und Jugendlichen orientiert hätten und nicht am Wunsch-Familienbild einiger Politiker.
Jetzt wird es zur Aufgabe der Gemeinde und da habe ich meine Bedenken, ob wir hier einheitliche Mindeststandards erreichen können.

Immerhin haben wir jetzt ein Neubauprojekt „Kindergarten Schnellbruck“. Zwar wird sich wahrscheinlich die Fertigstellung um einige Monate verzögern, was aber in einigen Jahren nur noch eine Randnotiz sein wird. Schlimmer wären weitere inhaltliche Streichungen gewesen. Offen bleibt noch, was mit dem alten Standort Kirchplatz, dem Kindergarten „Regenzauber“ im Balger und dem evangelischen Kindergarten geschehen wird.
Wir haben hier vor einigen Monaten eine Anfrage an die Verwaltung gemacht und zwischenzeitlich auch eine Antwort erhalten. Wir beantragen jetzt, daß wir regelmäßig (monatlich) über den aktuellen Stand der Diskussion unterrichtet werden. Ich denke es ist das Recht der Gemeinderäte über Planungsabsichten unterrichtet zu werden, wie es auch Pflicht der Gemeinderäte sein wird, sich an den Planungsdiskussionen zu beteiligen und die Ergebnisse dann auch mitzutragen.
Was aber bei aller ergebnisoffenen Diskussion nicht vergessen werden darf: Die Bürokratie, von der Ministerialbürokratie bis zur Ortschaftsverwaltung, ist kein Selbstzweck sondern letztendlich dazu da, die notwendigen organisatorischen Rahmenbedingungen für das gesellschaftliche Miteinander zu verwalten. Im Auftrag der Bürger. Ich habe aber manchmal den Eindruck, daß es bei den aktuellen Spardiskussionen in erster Linie darum geht, den Apparat zu erhalten und daß es eben nicht darum geht, die übertragenen Aufgaben mit den vorhandenen Mitteln zu erfüllen. Wenn wichtige Dienstleistungen einfach gestrichen oder unbedenklich verteuert werden, muß der Bürger sich irgendwann die Frage nach dem Sinn dieses Apparates stellen.

Aus meinen bisherigen Äußerungen geht wohl klar hervor, daß ich grundsätzliche Bedenken habe, Aufgaben, die in der Gegenwart erledigt werden müssen, mit Wechseln auf die Zukunft zu bezahlen. Allerdings gibt es durchaus große Aufgaben im investiven Bereich, die das rechtfertigen können. Zum Problem wird dies erst dann, wenn es die Regel wird. Was in der Vergangenheit, wie schon gesagt, leider der Fall war. Wir können uns heute aber nicht von allen Investitionen verabschieden. Investitionen in die Schule und in die Kindergärten sind eben auch Investitionen in die Zukunft. Darüber hinaus macht es antizyklisch gerade jetzt Sinn, größere Investitionen zu tätigen. Ich glaube wir haben bei der Abwägung zwischen Streichen, Kürzen, Verschieben und Investieren das richtige Maß getroffen.
Daß wir den Umbau des Rathauses verschieben müssen sehe ich nur zum Teil als bedauerlich an. Natürlich ist ein behindertengerechtes Rathaus nicht nur sinnvoll sondern auch Pflicht. Ich sehe es aber als gerechtfertigt an, den dafür notwendigen Umbau um ein Jahr zu verschieben. Das Bürgerbüro sollte nochmals grundsätzlich überdacht werden. Ich halte eine sinnvolle und wirklich effektive Lösung in z.B. 5 oder 8 Jahren für besser als eine Notlösung 2004, die dann aber auch Geld gekostet hat.

Ohne jetzt auf alle einzelnen Maßnahmen einzugehen, sage ich nochmals, daß wir die moderaten Kürzungen und die zeitlichen Verschiebungen bei einzelnen Objekten für sinnvoll halten und sie deshalb mittragen werden.

900.000 Euro sind natürlich eine stolze Summe. Als 1-Eurostücke aufgetürmt und an die Bahngleise gestellt ergäbe dies eine Mauer mit einer Höhe von 7,50 Meter und einer Länge von 6,50 Meter. Um diese Mauer nicht noch höher werden zu lassen tragen wir auch die Erhöhung der Grundsteuer mit. Sie ist natürlich ärgerlich. Nicht in der tatsächlichen Höhe. Aber diese Erhöhung ist eben nur eine unter vielen. Und in der Summe bedeutet es für viele Familien dann doch eine erhebliche Belastung. Ich halte eine Erhöhung aber dennoch für tragbar, eben weil wir Investitionen für die Zukunft tätigen und eben auch um die Belastungen nicht noch mehr in die Zukunft zu verschieben.
Dies auch in der Hoffnung - Utopien kann man ja noch haben - daß vielleicht irgendwann einmal Steuern auch in der Kommune wieder reduziert werden können.

Trotz alledem wurde in der Vergangenheit einiges getan und wird auch in der Zukunft noch einiges gemacht werden können. Das sieht man natürlich nicht, wenn man direkt an der Klagemauer steht. Ist diese aber niedergerissen und der Blick frei, sieht man plötzlich, daß Vieles eben nicht einfach verschwunden ist.

Wir haben letztes Jahr ein Symposion im Alten Grün als Kulturereignis in Kenzingen beantragt. Mit so einem Ereignis, wie auch mit der Skulptur im südlichen Kreisverkehr könnte die Gemeinde Kenzingen künstlerische Akzente setzen. Wir müssen aber akzeptieren, daß mit städtischen Mitteln diese Akzente zur Zeit nicht zu setzen sind. Allerdings schließt dies nicht aus, daß diese auch mit anderen Mitteln und der Unterstützung der Stadt gesetzt werden können, oder eben um eine bestimmte Zeit verschoben werden müssen.
Alles in allem ist die Situation nicht ausweglos. Der Park im Alten Grün, die Neugestaltung der südlichen Stadteinfahrt, die Förderrichtlinien für Investitionen bei regenerativen Energieerzeugungsanlagen, die Förderrichtlinien für Vereine in der Stadt, Straßenrenovierungen, Kanalsanierungen um nur einiges aus dem laufenden Jahr zu nennen und ebenso die nicht unerheblichen Investitionen auch 2003 zeigen, daß noch etwas läuft und daß auch in Zukunft noch etwas bewegt werden kann.
Trotzdem müssen auch wir auf allen uns zugänglichen politischen Ebenen auf eine Umstrukturierung und Neugestaltung der kommunalen Finanzsystems drängen.

Und wenn wir es dann noch gemeinsam schaffen die Mauer, jetzt aber nicht die Klagemauer sondern die badische Variante der Chinesischen Mauer - auch Überwerfungsbauwerk genannt - zu verhindern, sehe ich für die Zukunft nicht nur schwarz. In diesem Streit sollten wir aber Geschlossenheit zeigen. Dies aber auch unter dem Blickwinkel, was machbar ist und wo wir auch außerhalb unserer Gemarkungsgrenzen Unterstützung erhalten können.

Herr Bürgermeister Guderjan,
meine Damen und Herren der Verwaltung,

wir danken Ihnen für die geleistete Arbeit im jetzt zu Ende gehenden Jahr.
Alles in allem war es eine gute Zusammenarbeit, wenn man auch manchmal über Mauern und Hügel natürlich unterschiedlicher Meinung sein kann.

Ich sagte vorhin, ich habe die Hoffnung, daß kommunale Steuern irgend wann einmal gesenkt werden können. Und das gab es ja tatsächlich. Immerhin mußten die Bürger in Regensburg im Jahre 1375 wenn sie ein Weinfaß anstechen wollten den Weinzieher rufen und auf das Weinfaß einen Steuersatz von 6 1/3 Prozent entrichten. Diese Einnahmen wurden dann zum Erhalt der Stadtmauer verwendet. Das bleibt uns heute erspart. Allerdings hatten die damaligen Ratsherren auch das Recht, bestimmte Bußgelder zu vertrinken. Das gibt es heute auch nicht mehr. Man sieht die Geschichte entwickelt sich in beide Richtungen.

Die ABL-Fraktion stimmt dem Haushalt 2003 zu.

    Stefan Bilharz